Vierter Teil Der Waldmensch

Prosa

Was bisher geschah: Der Bürger Dietmar dringt in die Eremitage des Waldmenschen ein; nach dem Genuss eines Glases Gerolsteiner Mineralwasser und einer Portion Rehbraten fühlt er sich dort scheinbar sauwohl; dem Waldmenschen geht allerlei Krauses durch den Kopf.

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Foto: em

2. März 2018
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Im Grunde braucht der Mensch viel. Er braucht was gegen die Hitze; er braucht was gegen die Kälte. Er braucht was für den Magen; er braucht was für das Hirn. Er braucht was zum Reden; er braucht was zum Schweigen. Er braucht auch Blumen, Farne, Bäume, Schweine, das Meer und die Gletscher. Aber manches ist ihm primär, anderes sekundär, und wieder anderes meint er gar nicht zu brauchen. (Vergeben Sie mir diesen Ausflug ins plump-alltägliche Schwadronieren.) Dietmar war einer der Männer, die, befinden sie sich in einer Ehe, entweder das Schlafzimmer verlassen und ihr Bett im Keller aufstellen müssen oder ihre Frauen in den Wahnsinn treiben oder in die Flucht schlagen: Er schnarchte, dass es die Götter auf dem Olymp grauste.

Aber hatte er nicht berichtet, dass er eine Frau habe? Hatte er; das fiel mir ein, als ich durch Dietmars Nasal-Gewitter aufgeweckt wurde und nicht mehr einschlief. Sie verachte ihn, hatte er in seinem Furor berichtet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es nur des Schnarchens wegen war.

Was hatte ich mir bloss auf- bzw. eingeladen? Ich, der ich seit drei Jahren im Frieden mit der Welt und mit mir im Wald kampierte. Ich, der ich den Menschen aus dem Weg ging, wenn sie mir als Wanderer, Spaziergänger, Hundeausführer, Liebespärchen, Jagdleute zu nahe kamen. Ich, der ich den Thoreau in mir entdeckt hatte und wild entschlossen zur „tagtäglichen inneren Läuterung“ in den Wald aufgebrochen war. Wie Thoreau seinerzeit von sich sagte, hatte auch ich an der „unaufhörlichen Ängstlichkeit und Anspannung“ im Alltag gelitten. Auch ich hatte zu leicht „die Wichtigkeit dessen, was wir tun“ übertrieben und dabei übersehen, „wieviel doch ohne uns geschieht.“ Wir hasten durch das Leben und glauben, wir hätten ein Bild von der Zeit, in der wir leben. Ein Irrtum, der, wenn er wie ein Hammer niedergeht und das Selbstbild zertrümmert, zur Resignation oder zum Ausbruch führt?

Ich war an eine Grenze und vor die Frage gelangt: Bleibe ich den Rest meines Lebens Angestellter im Bürgeramt Ginnheim (Frankfurt am Main) oder springe ich von diesem täglichen 24-Stunden-Karussell ab?

Es war nicht allein die Arbeit als Dienstleister für oft nervende Bürger, das war schliesslich mein Brot. Es war das Gefühl, 24 Stunden am Tag überwältigt zu werden von Informationen, Lärm, Forderungen, Pflichten, Diktaten, Wahlen, Politik-Geschwätz, Medien-Dünkel, Konsum etc. Es war diese Stadt, die blosse Anhäufung von Steinen und Menschen, die ineinander wuchsen in dem Streben nach Geld und nach einem Leben, wie es die Kataloge der falschen Lebensbedürfnisse und falschen Körper anpriesen. Es war das Unwohlsein eines Risses der durch mich ging. Ein Spaltung: Ich war ein Stück Holz, in das ein Beil einen Keil getrieben hatte. Die eine Hälfte funktionierte mit der Gleichmässigkeit eines Metronoms, der andere sehnte sich – ja nach was? (Kein treffendes Bild, ich weiss. Holz funktioniert als Möbel, fürs Feuer, als Dachwerk; Holz sehnt sich nicht; aber mit der Zeit im Wald war ich zwar kein Mystiker geworden, meine sichere Gewissheit der Dinge verschwand jedoch.)

Ich unternahm lange Wanderungen an den Wochenende und spürte ausserhalb der Stadt den Wind. Und nichts, was ich dachte, allmählich wirklich nichts mehr, betraf irgendwelche politischen Dinge. Wenn das stundenlange Verweilen in Wald und zwischen Feldern mich zu säubern vermochte, wie rein würde ich sein, verbliebe ich im Wald und zwischen Feldern?

Und Dietmar schnarchte enthemmt. Ich klemmte mir den Schlafsack untern Arm und verliess das Zelt. Fünfzig Meter weiter hatte ich vor zwei Jahren eine Höhle in einem Felsstein entdeckt, die mir im Winter als Unterkunft diente. Sie war trocken, hielt eigenartigerweise bis in den Winter hinein die Wärme des Sommers; wenn ich in ihr mein Zelt errichtete, war ich doppelt geschützt. Eine dicht wachsende Hecke Wald-Brombeeren vor dem Eingang versperrte Sicht und Zugang. Ein Zufall liess mich die Höhle finden: Ich sah einen Hasen, den ich aufgeschreckt hatte, davonflitzen und durch die Hecke verschwinden, die, so schien mir, den Felsen bedeckte. Aber zwischen ihm und der Hecke gab es eine winzige Lücke, durch die ich mich zwängte – und plötzlich vor dem Loch stand. Der Hase sprang in panischer Furcht heraus, ich stieg ein. Bevor ich jetzt einschlief, hörte ich das wütende Bellen und Röhren eines Rehbocks.

Als ich es vor drei Jahren in der ersten Nacht im Wald zum ersten Mal hörte, ging es mir durch Mark und Bein. Welche Bestie umschlich mein Zelt? O, Gott, wie ist der deutsche Wald beschaffen? Von welchen Ungeheuern wurde nie berichtet, um die Bürger nicht zu beunruhigen und sie in der Sicherheit zu wiegen, sie lebten in der besten aller Welten? Schon das Auftauchen von Wölfen war ein Szenarium des Schreckens und kaum zumutbar. Dann folgten die Wildschweine mit der afrikanischen Schweinepest. Die Bienen starben, und Ratten wurden gesehen von der Grösse deutscher Schäferhunde. Dazu überschütteten uns die elektronischen Medien mit Bildern aus Kriegen in der Ferne, doch von den Massakern durch mammutgrosse Einhörner im nahen Stadtwald berichteten sie nicht! Mir schlug das Herz zum Halse. Schliesslich entfernte sich das Gebrüll.

Anderntags begegnete ich auf meinen Wegen einem Jägersmann, dem ich von dem Scheusal berichtete. Er lachte und meinte, dass es sich um einen Rehbock gehandelt haben dürfte, in dessen Revier ich eingedrungen war. Noch dazu brünftig, hatte ihn das Zelt (zusätzlich dessen Farbe Rot) in eine ohnmächtige Weissglut getrieben, bis er unverrichteter Dinge (welcher? mich anzugreifen? das Zelt und mich zu zertrampeln?) Diesmal dachte ich: Gefahr benannt, Gefahr gebannt; der Rumpelstilzchen-Effekt beruhigte, ich schlief selig ein.

Ich erwachte von Dietmars Rufen. „Wo bist du, Mann Ohnenamen! Wo versteckst du dich! Ich habe Wasser aufgesetzt, gleich gibt es Kaffee!“ Seine Rufe näherten sich, entfernten sich wieder. Dietmar streifte durch den Wald und hörte sich ausgeruht und dynamisch an. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Höhle zu verlassen und mich ihm zu stellen. Mir war unbehaglich zumute; ich hatte verlernt, gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Oder treffender gesagt: Wie redete ich mit einem Menschen, dessen Sprunghaftigkeit (gestern zu Tode betrübt, heute himmelhoch jauchzend) mich nervte und sprachlos machte? Wie redete ich überhaupt mit einem Menschen, der mich an denjenigen erinnerte, der ich mal war? Wieviel Dietmar steckte in mir?

Fünfter Teil

Eckhard Mieder